Die Berliner Stadtmusikanten

Nach der verpatzten Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im September 2021 mußte diese Wahl am 13. Februar dieses Jahres wiederholt werden. Der klare Gewinner der Wiederholungswahl ist die CDU, die mehr als zehn Prozent Stimmen hinzugewinnen konnte; Verlierer sind die drei Parteien der regierenden Rot-Grün-Rot-Koalition, die allesamt Stimmen verloren haben, wenn auch in unterschiedlichem Maße.

Die Gespräche zur Bildung einer neuen Koalition haben bereits begonnen, und das ist eine gute Gelegenheit, um an ein Märchen der Gebrüder Grimm zu erinnern, nämlich an die „Bremer Stadtmusikanten“.

Ein altersmüder Esel, ein schwacher Jagdhund, eine Katze mit stumpfen Zähnen und ein Hahn haben ihre Schuldigkeit getan. Sie sollen verhungern, erschlagen, ersäuft oder geschlachtet werden – und nehmen Reißaus, um stattdessen in Bremen Stadtmusikanten zu werden. (Offenbar hatte Bremen seinerzeit den Ruf, daß dort so ziemlich jeder noch Karriere machen konnte.)

Auf dem Weg dorthin stoßen sie auf ein hell erleuchtetes und gut bestücktes Haus im Wald, in dem Räuber leben. Mit vereinten Kräften schaffen sie es, die Räuber zu vertreiben und das Haus zu übernehmen. Ein Versuch der Räuber, ihr Haus zurückzuerobern, scheitert kläglich und „von nun an getrauten sich die Räuber nicht weiter in das Haus, den vier Bremer Musikanten gefiel’s aber so wohl darin, daß sie nicht wieder heraus wollten.“

Mit anderen Worten: die vier trotzen der unbarmherzigen, kapitalistischen Verwertungslogik und als Stellvertreter für all die Schwachen, Unterdrückten, Diskriminierten, Ausgebeuteten und Entrechteten zeigen sie den fetten Räubern, wo der Hammer hängt. Es liegt auf der Hand, daß damit nicht nur im Haus, sondern im ganzen Wald eine goldene Zeit anbricht. So weit, so gut.

Heute treffen sich die Vertreter jener Rot-Grün-Rot-Koalition, deren Stimmverluste nach allgemeiner Ansicht ein Zeichen dafür sind, wie unzufrieden die Bürgerinnen und Bürger der Hauptstadt mit ihrem Regierungshandeln sind. In diesen Gesprächen soll es darum gehen, ob eben diese Regierung fortgesetzt werden soll. Das ist eine gute Gelegenheit, den zweiten Teil jenes Märchens zu erzählen.

Nach einer Reihe von Jahren nämlich ist das Haus, das die vier gewesenen Musikanten noch immer bewohnen, ziemlich verkommen und der Wald, der das Haus umgibt, verwahrlost. Die Musikanten streiten sich ständig über irgendwelche Kleinigkeiten und fahren sich gegenseitig in die Parade. Das alles hindert sie allerdings nicht daran, sich selbst für recht großartig zu halten und der festen Überzeugung zu sein, daß nicht nur das Haus, sondern der ganze Wald auf einem wirklich guten Weg ist.

Die anderen Tiere des Waldes werden immer unzufriedener und immer mehr sind sie der Meinung, daß sich etwas ändern muß, weil es so unmöglich weitergehen kann. Also rufen sie eines Tages die Räuber zurück, denn das ist die einzige Möglichkeit, die ihnen bleibt.

Die Räuber kommen – doch als die gewesenen Musikanten erkennen, daß ihnen daraus die ernsthafte Gefahr erwächst, das Haus und alles, was damit zusammenhängt, wieder zu verlieren, da tun sie sich erneut zusammen und stimmen sich trotzig auf ein Protestlied aus den siebziger Jahren ein: das ist unser Haus!

Nicht alle, doch auch nicht wenige Tiere des Waldes schütteln daraufhin nur ihre Köpfe und denken, soweit ist es also gekommen – aus jenen, die einst die Räuber vertrieben haben, sind nun selbst Räuber geworden.

Zugegeben, was genau sich ereignen wird, das muß sich erst noch zeigen, die Berliner Stadtmusikanten haben es in der Hand. Seinerzeit überzeugte der Esel den Hahn davon, sich den dreien doch anzuschließen, mit den Worten: etwas Besseres als den Tod findest Du überall. Das stimmt wohl in der Regel – doch die Opposition ist nicht der Tod. Ja, für jene Partei, die am meisten verloren hat, könnte sie sogar der Anfang eines neuen Lebens sein.

Aufmerksamen Lesern wird aufgefallen sein, daß die Bremer Stadtmusikanten zu viert, die Berliner aber nur zu dritt sind – doch das ist Berlin, immer fehlt irgendetwas.

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