Ein Armutszeugnis

Die Deutsche Bahn arbeitet daran, den sogenannte Deutschlandtakt einzuführen. Nach dem Vorbild der Schweiz soll ein integraler Fahrplan in Geltung treten, der das Bahnfahren pünktlicher und schneller machen soll, Anschlüsse sollen direkter und verläßlicher werden, auf wichtigen Strecken die Züge halbstündig fahren. Dieser Deutschlandtakt ist ein zentrales Element des sogenannten Schienenpaktes, auf den sich 2020 Regierung, Gewerkschaften, Verbände und die Deutsche Bahn geeinigt haben. Danach soll der Deutschlandtakt im Jahr 2030 implementiert sein. Doch wie sich vor zwei Wochen herausstellte, wird es wohl etwas länger dauern.

Michael Theurer (FDP), Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium und Beauftragter der Bundesregierung für den Schienenverkehr, ließ nämlich in einer Fernsehsendung verlauten, daß mit der endgültigen Einführung wohl erst 2070 zu rechnen ist, also vierzig Jahre später als geplant.

Nun ist ja jeder, der hin und wieder mit der Deutschen Bahn zu tun hat, an Verspätungen gewöhnt, auch an ganz erhebliche Verspätungen, und so hat wohl kaum jemand wirklich erwartet, daß dieser Plan tatsächlich in nur zehn Jahren umgesetzt werde würde – aber gleich vierzig Jahre Verspätung auf der Anzeigetafel zu lesen, das ist selbst für die ganz abgebrühten Bahnkunden ziemlich happig.

Außerdem ist das auch nur der Plan. Wenn man bedenkt, daß nur knapp drei Jahre nach dem großen Schienenpakt alles gleich um vier Jahrzehnte verschoben wird, wagt man sich kaum auszumalen, mit welchen Verschiebungen noch zu rechnen ist. Michael Theurer bezeichnete den Deutschlandtakt als ein „Jahrhundertprojekt“ – die Frage aber drängt sich auf, welches Jahrhundert damit letztlich gemeint ist?

Doch wer nun dachte, schlimmere Nachrichten könne es bezüglich der Deutschen Bahn eigentlich nicht mehr geben, sah sich nur eine Woche später eines Besseren belehrt. Um es kurz zu machen: Mitarbeiter der Deutschen Bahn erkannten Julian Reichelt nicht!

Derselbige fuhr am Freitag, den 10. März, mit der Bahn von Koblenz nach Berlin. Da ein Online-Ticket nur in Verbindung mit einem Personaldokument gültig ist, wurde der ehemalige „Bild“-Chefredakteur im Rahmen der Fahrkartenkontrolle aufgefordert, ein solches vorzuzeigen. Ob er das nun nicht konnte oder nicht wollte, jedenfalls verweigerte er sich dem, und das mit dem lautstark vorgetragenen Argument: man muß ihn kennen, weil er doch einer der bekanntesten Journalisten des Landes ist!

Diese Episode endete für Herrn Reichelt bei der Bundespolizei im Berliner Hauptbahnhof, die seine Personalien feststellte und ihn anschließend entließ. Auch dort zeigte er sich wohl wenig kooperativ und war aufgebracht – und wer könnte es ihm verdenken? Auch wenn er voller Bescheidenheit darauf hinwies, nur einer der bekanntesten Journalisten des Landes zu sein, so ist er doch in Wahrheit DER bekannteste Journalist des Landes. Ja, angesichts seiner immensen Bedeutung für Politik, Kultur und Gesellschaft ist er wahrscheinlich sogar der bekannteste Journalist der ganze Welt, mit Sicherheit aber ist er der allerbedeutendste Journalist der ganzen Welt. Und dieser göttliche Mann wurde nicht erkannt! Darüber aufgebracht zu sein, hat nun wahrlich nichts mit Selbstüberschätzung oder Eitelkeit zu tun!

Dieser Vorfall ist ein Armutszeugnis, das die paar Jahrzehnte Verspätung bei der Einführung des Deutschlandtakts zur Lappalie werden lassen. Die Deutsche Bahn sollte daraus Konsequenzen ziehen, doch falls sie es nicht tut (oder erst mit erheblicher Verspätung), so bleibt uns und Julian Reichelt doch die Gewißheit, daß jene Versager die schöne, neue Welt des Deutschlandtaktes jedenfalls nicht mehr mitgestalten werden. Dafür wird in den Jahrzehnten oder Jahrhunderten, die bis zu seiner Einführung noch vergehen werden, das Werk Julian Reichelts mit Sicherheit Pflichtlektüre in allen Klassenstufen werden. In dieser glänzenden Zukunft werden ihn alle, aber auch wirklich alle Mitarbeiter der Deutschen Bahn endlich kennen, und natürlich auch die Beamten der Bundespolizei.

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